Talke verbringt die Nacht im Krankenhaus, die Narkose wird verlängert und wir fahren nach Hause. Wie sind wir dorthin gekommen ? Keine Ahnung - ein Flug durch die Nacht. Das Einzige, woran ich (Papa) mich erinnere, ist der Gedanke, daß sie nie mehr auf ihrem Laufrad um die Ecke gesaust kommt ...
Am nächsten Morgen brechen wir frühzeitig nach Oldenburg auf. Um 09.00 Uhr sind wir auf der Intensivstation mit den Ärzten verabredet. Zur gleichen Zeit soll die Narkose langsam eingestellt werden. Wir betreten ein großes Zimmer und finden unser Kind umgeben von Maschinen und Schläuchen in einem Gitterbettchen ... Bekleidet ist sie noch immer mit Ihrer geliebten Apfelunterwäsche und hat den niemals-zu-vergessenden-Hamster im Arm. Talke schläft und wir kommen uns wie Protagonisten in einem B-Movie-Horrorfilm ...
Dann gehen die blauen Augen auf ... "Mama, ich habe Dich so vermißt" ... und wir wissen, daß sie sterben wird ! Wie geht es weiter; was sagen wir Evke, die bei Oma und Opa geparkt wurde; wie lange noch ?
Den Tag verbringen wir gemeinsam mit Fritz auf der Intensivstation, spielen Memory, lesen aus ihrem geliebten Wimmelweltbuch vor und müssen uns abends von ihr verabschieden. Eine Übernachtung auf der Station ist nicht möglich. Wir telefonieren mit dem Krankenhaus und erfahren, daß sich die Kleine beharrlich weigert, eine Windel umzubinden. Schließlich sei sie ein großes Mädchen und große Mädchen tragen keine Windeln. Die Schwester geht mit ihr Hand in Hand auf dem Flur zur Toilette.
Am nächsten Tag können wir eine Übernachtung durchsetzen, um am nächsten Morgen Einzelheiten über die weitere, jedoch aussichtslose Behandlung zu erfahren.
Vorgeschlagen wird eine kombinierte Chemo-/Bestrahlungstherapie, um das Wachstum des Tumors einzudämmen. Eine Operation scheidet aus und Aussicht auf Heilung gibt es nicht. Jede Therapie hat allenfalls eine vorübergehende Änderung des Krankheitsbilds zur Folge, eventuell kann Talke wieder in den Kindergarten und ihren 4. Geburtstag feiern. Sollte die Therapie erfolgreich verlaufen, würden wir jeden Tag auf das Auftreten neuer Krankheitssympthome warten und wissen, das nunmehr die Zeit des Abschieds gekommen ist. Wie lange noch ? Eventuell 6, vielleicht 10 Monate sofern die Behandlung anschlägt ... Und wenn sie nicht anschlägt ? Schweigen ....
Warum das Kind quälen, wenn doch eh alles umsonst ist ? Wofür ? Warum Talke ? Warum wir ? Vor 10 Tagen war sie doch offensichtlich gesund, hat gelacht, Unfug gemacht, gespielt ? Ist von zu Hause mit ihrem Laufrad ausgebüchst, um Evke von der Schule abzuholen ? Alles Vergangenheit ... Sollen wir der Therapie zustimmen ? Fragen im Freundeskreis – wir entschließen uns, unser totkrankes Kind solange wie möglich behalten zu wollen !
Die heiße Phase der Vorweihnachtszeit beginnt – der Nikolaus kommt. Fritz kann sich kaum noch verständlich machen und auch uns als Eltern fällt es schwer, die Kleine zu verstehen. Aufgrund der Medikamente hat Talke dauernd Hunger, schreddert alles, was ihr vor den Mund kommt. Das Gehen wird immer schlechter, meistens rutscht sie auf den Knien hin und her und wird wütend, daß sie nicht mehr das machen kann, was sie will.
Was für ein Elend, was für ein Schicksalsschlag – und bei aller Trauer und Wut müssen wir auch Evke gerecht werden, die bisher noch nicht im Einzelnen weiß, das ihre kleine Schwester sterben wird !
Über Freunde erfahren wir, daß in der Nachbarschaft erste Gerüchte aufkommen – direkte Nachbarn zeigen ihre Anteilnahme durch ein verstärktes Informationsbedürfnis über den Gartenzaun. Wiederum andere meinen zu wissen, daß Talke der Tumor aus dem Kopf wächst. Die dritte Fraktion urteilt über uns, daß wir miserable Eltern sind und alles hätte viel früher erkannt werden müssen – dann bestände Hoffnung und das Kind würde leben dürfen!
Leben – was wissen diese Menschen schon ? Wissen gar nicht schätzen, daß sie 1 oder 2 (offensichtlich) gesunde Kinder haben und wagen es, über uns das Schwert zu brechen ... Anteilnahme ? Mitgefühl ? Hilfe ? Zuhören oder eventuell eine Umarmung ? Fehlanzeige - das Leben und der Tod sind grausam - viele Menschen sind widerwärtig ! Eine Erfahrung, die sich fortsetzen wird ....
Wir fahren nach Oldenburg, um Talke im ersten Krankenhaus einen Port, einen dauerhaften Zugang für die Verabreichung von Medikamenten, legen zu lassen sowie im zweiten Krankenhaus die Bestrahlungsmaske anfertigen zu lassen. Am Wochenende fahren wir ein letztes mal zu viert auf den Weihnachtsmarkt, nachdem wir uns eine Karre für Talke geborgt haben. Einmal noch Karussel fahren und Bratwurst essen; einmal noch Pommes rot/weiß in die Jacke schmieren; einmal noch mit dem hängenden Mundwinkel lachen ...
Alles hat Talke über sich ergehen lassen: die Operation; diverse Untersuchungen; arrogante Kinderärzte, die ohne jedes Gespürr und Feingefühl für die Situation unseres Kindes oder die der Eltern; die erste Bestrahlung in Vollnarkose.
Jetzt am Dienstag, den 16.12 08, 2,5 Wochen nach der Diagnose, neigen sich ihre Kräfte langsam dem Ende entgegen. Die Nacht über hat sich die Kleine desöfteren übergeben, ebenso auf der Fahrt nach Oldenburg sowie auf dem Heimweg nach der 2. Bestrahlung. Mittags, wir warten auf Evke’s Schulschluß, beginnt Fritz zu krampfen und wir entscheiden uns, sofort wieder nach Oldenburg zu fahren. Sie ist noch ansprechbar, schwitzt aber fürchterlich und brummelt nur noch.
4 Stunden später fällt Talke in ein Koma, aus dem sie nicht mehr erwachen wird. Streicht sie sich anfangs noch mit der Hand über ihren kleinen Kopf, so erlahmen im Laufe des abends auch diese Bewegungen
Stille, absolute Stille - Talke hat für sich beschlossen zu schlafen. 3 Monate vor ihrem vierten Geburtstag ist unser Kind ein Pflegefall geworden. Wir bleiben 24 Stunden am Tag bei ihr, es sind ja Gott sei Dank - streiche Gott und ersetze durch glücklicherweise - Ferien und Evke kann bei Oma und Opa bleiben. Den schon angeschafften Weihnachtsbaum lassen wir unbeachtet - Weihnachten fällt für uns aus, ebenso Silvester ! Wir verbringen alle Tage im Krankenhaus.
Was sollen wir tun ? Wir dürfen im Krankenhaus bleiben, solange wir wollen. Wir sind uns uneinig, was wir machen sollen ! Im Krankenhaus kann man sofort reagieren, wenn etwas passiert ... Aber was soll passieren ? Die Schmerzmitteldosen erhöhen ? Wollen wir in unserem Haus, in dem beide Kinder gezeugt und aufgewachsen sind, ein Sterbezimmer haben ? Wenn ja, welches Zimmer sollen wir nehmen ? Doch nicht ihr Kinderzimmer - vor 5 Wochen hat sie noch am Schreibtisch gesessen und wir haben zusammen im "groe Bett" vorgelesen und anschließend gekuschelt ...